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Ein Waldgrundstück an einem See irgendwo in Brandenburg. In „Heimsuchung“ erzählt Jenny Erpenbeck die Geschichten der Menschen, denen dieses Grundstück im Laufe von hundert Jahren gehört hat. Die es an Sommerfrischler verkauften, die ein Sommerhaus dort bauten, die ihr Sommerhaus verlassen und aus Deutschland fliehen mussten oder umgebracht wurden, die sich vor der Roten Armee dort versteckten, die es als Rotarmisten besetzten, die aus dem Exil dorthin zurückkehrten, die es schließlich nach der Wende an Alteigentümer und Investoren abgeben mussten.

Elf Geschichten, elf Leben. Jedes auf wenigen Seiten erzählt, in einer wunderbar präzisen Sprache, die alles Bekannte und schon Gehörte ausspart und direkt auf das Wesentliche, den Kern der Geschichte zusteuert. Mit einer Konzentration, die bezaubert, die aber auch weh tut – wenn wir zum Beispiel von dem Mädchen lesen, das sich in einem dunklen Schrank im Warschauer Ghetto versteckt, während ringsum die Häuser geräumt und die Menschen abtransportiert werden, und das sich in ihrem Versteck an die Sommer auf dem Seegrundstück ihrer Großeltern erinnert.

„Heimsuchung“ ist eins der vielschichtigsten Bücher, die ich kenne. Es erzählt auf 190 Seiten hundert Jahre deutsche Geschichte – aber es erzählt auch von Heimat, dem Erschaffen einer Heimat, dem Abschiednehmen, dem Dableiben, dem Aufgeben, dem Vertriebenwerden. Es gibt jeder Person, die darin auftritt, den Raum, den sie braucht, verhilft jeder zu ihrem Recht, so unterschiedlich sie sind. Zum Beispiel dem Architekten:

„Heimat planen, das ist sein Beruf. Vier Wände um ein Stück Luft, ein Stück Luft mit steinerner Kralle aus allem, was wächst und wabert, herausreißen, und dingfest machen. Heimat. Ein Haus die dritte Haut, nach der Haut aus Fleisch und der Kleidung. Heimstatt. Ein Haus maßschneidern nach den Bedürfnissen seines Herrn. Essen, Kochen, Schlafen, Baden, Scheißen, Kinder, Gäste, Auto, Garten. Ob all das – oder das und das nicht, umrechnen in Holz, Stein, Glas, Stroh und Eisen. Dem Leben Richtungen geben, den Gängen Boden unter den Füßen, den Augen einen Blick, der Stille Türen. Und das hier war sein Haus.“

Dies wird erzählt in dem Moment, da der Architekt zum letzten Mal durch das Haus geht und abschließt, weil er sich nach Westberlin absetzen muss, bevor er verhaftet wird. (Wir befinden uns in den Anfangsjahren der DDR.) So wie hier wird sehr oft ein ganzes Leben aus einem Moment der Stille oder des Wartens heraus erzählt, in Rückblenden und Vorgriffen, die immer das Besondere und zugleich Allgemeingültige treffen und immer das genau richtige Wort dafür finden. Erzählkunst auf höchstem Niveau.

Obwohl jede Person und jedes Leben für sich steht, sind alle eng miteinander verwoben – über den Ort, aber auch über Motive und sprachliche Wendungen, die immer wieder auftauchen. Das letzte Kapitel zum Beispiel greift fast wörtlich Passagen aus dem zweiten Kapitel wieder auf, nur eben in ganz anderem Kontext. Und dann ist da noch der Gärtner: jedes zweite Kapitel erzählt von ihm, wie er Jahr für Jahr fast die gleichen Arbeiten verrichtet. So dass man lange meint, er sei zeitlos. Bis er sich doch zu verändern beginnt.

Jenny Erpenbeck: Heimsuchung
Penguin Taschenbuch
ISBN-13: 9783328102519